Organisierte Sitzung

Medizintechnische Innovationen in der stationären Patientenversorgung – Fallzahlentwicklung vs. Evidenzentwicklung

Die Medizintechnik hat wesentlich zu Verbesserungen in der Diagnostik und Behandlung von Patienten beigetragen. Sicherheitswarnungen und Rückrufe lassen jedoch Zweifel an der Sicherheit und dem Nutzen einiger neuen Technologien aufkommen. Wie können wir eine bestmögliche Patientenversorgung sicherstellen und welche Bedeutung kommt der wissenschaftlichen Evidenz bei der Einführung und Nutzung von medizintechnischen Innovationen im Krankenhaus zu? Welche Innovationen sind es ‚wert‘ in die Regelversorgung der gesetzlichen Krankenkassen aufgenommen zu werden? Wie gehen Krankenhäuser mit neuen Medizinprodukten um? Diese Fragen sollen in der Session näher beleuchtet und diskutiert werden. Der Fokus liegt auf 27 neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden (NUB) deren Anwendung maßgeblich auf dem Einsatz innovativer Medizintechnik beruht. Ziel ist es, den Zusammenhang zwischen Fallzahlentwicklung in deutschen Krankenhäusern und Evidenzentwicklung angewandter Technologien systematisch bis zum Jahr 2017 zu untersuchen. Die Betrachtung der Fallzahlentwicklung und der Evidenzentwicklung erfolgte für alle Technologien ausgehend davon, wann diese erstmalig den NUB Status 1 erhalten haben (zwischen 2006 und 2012). Der NUB Status 1 – vergeben durch das Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus – erlaubt es beantragenden Krankenhäusern ein Zusatzentgelt mit den Krankenkassen zu verhandeln. Zur Betrachtung der Evidenz wurden für die 27 NUB systematische Literaturrecherchen hinsichtlich der Effektivität und Sicherheit durchgeführt und pro Jahr ausgewertet. Identifizierte Studien wurden für eine Auswertung der Evidenzentwicklung den entsprechenden Jahren zugeordnet. Zusätzlich wurden Sicherheitswarnungen in die Analyse einbezogen. Die NUB-Fallzahlen des stationären Sektors sowie die Anzahl der leistungserbringenden Krankenhäuser für die eingeschlossenen NUB wurden aus Abrechnungsdaten der Krankenhäuser nach § 21 KHEntgG für die Jahre 2006-2017 extrahiert. Zudem wurde untersucht, ob leistungserbringende Krankenhäuser sich an der Evidenzgenerierung für NUB in Form von klinischen Studien beteiligt haben und welche Charakteristika diese Krankenhäuser aufweisen. Die Beteiligung an Studien wurde aus den über die in systematischen Reviews identifizierten Publikationen extrahiert. Zur Identifikation der einzelnen leistungserbringenden Krankenhäuser und zur Berechnung der Fallzahlen pro Krankenhaus dienten die Standardisierten Qualitätsberichte der Krankenhäuser. Erkenntnisse der durchgeführten Studie sollen die Diskussion anregen, ob Maßnahmen erforderlich sind, die sicherstellen, dass NUB erst dann regelhaft zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen zur Anwendung kommen, wenn hinreichende wissenschaftliche Erkenntnisse für eine Bewertung von deren Nutzen oder Schaden vorliegen.

Vorträge

Welche Bedeutung hat die Evidenz bei der Diffusion von neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in deutschen Krankenhäusern?
Helene Eckhardt, Technische Universität Berlin

Einleitung

Einleitung: Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden (NUB) gelangen in Deutschland aufgrund der geltenden Regelung des Verbotsvorbehalts schnell in die stationäre Versorgung, ohne eine vorherige Überprüfung des Nutzens dieser Technologien. Gibt es zwischen der verfügbaren wissenschaftlichen Evidenz und der Anwendung von NUB einen Zusammenhang? Welche Rolle spielen dabei andere Aspekte wie Finanzierung, Sicherheitswarnungen und Rückrufe? Methodik: Systematische Literaturrecherchen zu 27 NUB wurden zwischen Mai 2019 und März 2020 in vier biomedizinischen Datenbanken durchgeführt. Zusätzlich wurden Studienregister, HTA-Datenbanken, verschiedene Quellen für klinischen Leitlinien, Datenbanken mit Sicherheitswarnungen und Rückrufen sowie Finanzierungsdokumentationen durchsucht. In die Analyse wurden Veröffentlichungen der Evidenzstufen (LoE) I-IV (gemäß G-BA) zwischen 2003-2017 einbezogen und nach vorab definierten Kriterien analysiert. Die Fallzahlen wurden aus den stationären Abrechnungsdaten aggregiert über alle deutschen Krankenhäuser für die einzelnen Jahre 2005-2017 berechnet. Die Analyse des Zusammenhangs zwischen Evidenz- und Fallzahlentwicklung erfolgte deskriptiv, in dem die Veröffentlichungen auf einer LoE I-IV Ordinate und die Fallzahlen auf einer Zeitachse abgetragen wurden. Ergebnisse: Die Fallzahlverläufe können grob zu vier Typen (T) zusammengefasst werden: T1 mit tendenziell steigenden Fallzahlen (14 NUB), T2 mit zunächst steigenden und anschließen fallenden Fallzahlen (10 NUB), T3 mit fallenden (2 NUB) und T4 ohne klare Tendenz (1 NUB) des Fallzahlverlaufs. Die Anzahl der eingeschlossenen Publikationen pro NUB variiert zwischen weniger als 10 (z.B. Fetoskopische Drainagetherapie) und mehr als 100 (z.B. TAVI). Für alle NUB bilden Studien des LoE IV das Gros des Evidenzkörpers. Für manche NUB wurden keine RCTs identifiziert (z.B. adjustierbare Kontinenztherapie), für andere dagegen mehr als 10 (z.B. bioresorbierbare Stents). Für einige NUB scheint die Veröffentlichung positiver bzw. negativer Evidenz mit steigenden bzw. sinkenden Fallzahlverläufen zusammenzuhängen. Für andere NUB scheinen andere Faktoren, wie die Finanzierung, eine höhere Gewichtung haben. Schlussfolgerungen: Die Anwendung von NUB in dieser Stichprobe scheint oft mit den Ergebnissen der Evidenz zusammenzuhängen. Andere Faktoren (z.B. Finanzierungsänderung) könnten jedoch auch eine Rolle spielen. Diese Hypothesen sollten weiter empirisch untersucht werden. Ebenso sichtbar wird, dass mehrere NUB über Jahre am Patienten angewendet werden, bevor ein robuster Evidenzkörper zur Verfügung steht. Die Angemessenheit der vorhandenen Regularien sollte vor diesem Hintergrund erneut diskutiert werden.

Anwendung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden (NUB) in deutschen Krankenhäusern und Beteiligung an klinischen Studien
Tanja Rombey, Technische Universität Berlin

Einleitung

Einleitung: Bei neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden (NUB) ist der Nutzen nach der Marktzulassung i.d.R. noch nicht nachgewiesen. Daher ist es von zentraler Bedeutung, dass Evidenz in Form von aussagekräftigen klinischen Studien bezüglich der Wirksamkeit und Sicherheit von NUB generiert wird. Übergreifendes Ziel des Beitrags ist die deskriptive Analyse und die Gegenüberstellung des Versorgungsgeschehens und der Studienbeteiligung deutscher Krankenhäuser bei NUB. Unterziele fokussieren auf die folgenden Fragen: Wie hoch ist die Anzahl der Anwendungen in den Krankenhäusern pro NUB? Welche anwendenden Krankenhäuser sind als forschende Krankenhäuser an der Evidenzgenerierung in Form von klinischen Studien beteiligt? Gibt es Unterschiede in den Strukturmerkmalen forschender und nicht-forschender Krankenhäuser? Methoden: Die Studie ist Teil eines Projekts, in dessen Rahmen 27 NUB über systematische Reviews hinsichtlich der Entwicklung verfügbarer Evidenz zur Wirksamkeit und Sicherheit untersucht wurden. Anhand der Operationen- und Prozedurenschlüssel (OPS) wurden über strukturierte Qualitätsberichte der Krankenhäuser die anwendenden Krankenhäuser sowie deren Fallzahlen und Strukturmerkmale für den Zeitraum 2006-2017 identifiziert. Anhand der Ergebnisse der systematischen Reviews wurde geprüft, welche der anwendenden Krankenhäuser sich an klinischen Studien (unterschieden nach Evidenzlevel) beteiligt haben. Häufigkeiten und Merkmale anwendender und forschender Krankenhäuser wurden deskriptiv untersucht. Ergebnisse: Es wurden 14 NUB in die Analyse eingeschlossen, die über einen eindeutigen OPS abbildbar waren. Dabei handelt es sich überwiegend um Hochrisikomedizinprodukte. Der Anteil an anwendenden Krankenhäusern, die sich an klinischen Studien beteiligten, reichte je nach NUB von 1% (2/143; 2012-2017) bis 44% (55/126; 2012-2017). Der Anteil an Fällen, die in forschenden Krankenhäusern behandelt wurden, reichte je nach NUB von 4% (17/409; 2012-2017) bis 83% (4.323/5.233; 2012-2017). Forschende Krankenhäuser waren gemessen an der Bettenzahl größer, hatten häufiger eine öffentliche Trägerschaft und den Status Lehrkrankenhaus bzw. Universitätsklinik als nicht-forschende Krankenhäuser. Bei den Studien handelte es sich überwiegend um nicht-vergleichende Studien. Schlussfolgerung: Der Anteil forschender Krankenhäuser variierte stark in Abhängigkeit von der NUB. Bei einigen NUB ist erkennbar, dass forschende Krankenhäuser einen größeren Anteil behandelter Fälle aufweisen. Allerdings ist dieses Muster nicht bei allen NUB zu bestätigen. Die Verwendung von NUB sollte - bis eine ausreichende Evidenzbasis vorhanden ist - Krankenhäusern vorbehalten sein, die sich an klinischen Studien beteiligen und so die noch notwendige Evidenz generieren.

Eine Studie zur Entwicklung von Fallzahlen und Evidenz medizintechnischer Innovationen in der stationären Patientenversorgung am Beispiel von koronaren und peripheren Stents
Susanne Felgner, Technische Universität Berlin

Einleitung

Einleitung: Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden (NUB) gelangen in Deutschland ohne einen Nutzennachweis in die stationäre Versorgung. Ziel der Studie ist die Untersuchung (1) der longitudinalen Entwicklung von Evidenz, Sicherheitswarnungen und Rückrufen sowie Änderungen der Finanzierungsarten für bioresorbierbare Koronarstents (BRS) und medikamentenfreisetzende Oberschenkel-Stents (DES) und (2) dieser Entwicklungen mit Blick auf die Fallzahlen in deutschen Krankenhäusern. Methode: Es wurde ein systematischer Review in vier Datenbanken durchgeführt. Zusätzlich wurden Studienregister, HTA-Datenbanken sowie Quellen klinischer Leitlinien und Finanzierungsdokumentationen durchsucht. Die identifizierten Publikationen (2006-2017) wurden nach vorab festgelegten Merkmalen ausgewertet, u.a. Evidenzlevel (LoE), Probandenzahlen und Autorenbewertung der Studienergebnisse (geclustert nach positiv, negativ, neutral, unschlüssig). Die Fallzahlen wurden mit den Merkmalen, Finanzierungsart sowie recherchierten Sicherheitswarnungen und Rückrufen in Beziehung gesetzt. Ergebnisse: Über die Literaturrecherche wurden für BRS und DES 201 bzw. 57 Publikationen der LoE I-IV identifiziert. Die Entwicklung der Fallzahlen ist zu Beginn der Betrachtung ähnlich, zeigt jedoch in späteren Jahren einen gegensätzlichen Trend. In den ersten Jahren der Anwendung wurden meist kleinere Studien geringer LoE (III, IV), vorwiegend mit positiven Ergebnissen, veröffentlicht. Die Fallzahlen steigen bei DES innerhalb von 3 Jahren um 54% (2008: 210 Fälle, 2010: 324 Fälle) und bei BRS bereits innerhalb von 2 Jahren um 47% (2013: 5.100 Fälle, 2014: 7.494 Fälle). Während die Fallzahlen von DES in den Folgejahren weiter steigen (2012: 1.772 Fälle und 2017: 2.230 Fälle), sinken die Fallzahlen von BRS seit 2014 stetig, bis auf 1.016 Fälle in 2017. Bei einem Großteil der Publikationen zu DES werden die Ergebnisse zu Sicherheit und Wirksamkeit positiv durch die Autoren bewertet. Die negative Fallzahlentwicklung von BRS geht gleichzeitig mit einer steigenden Anzahl publizierter randomisierter kontrollierter Studien (LoE Ib) mit neutralen oder negativen Ergebnissen einher. In 2016-17 mehren sich Publikationen hoher LoE (Ia-IIa) mit negativen Bewertungen. Für BRS sowie DES vergrößert sich die Evidenzbasis im Zeitverlauf. Für Produkte beider NUB wurden verschiedene Finanzierungsarten sowie Sicherheitswarnungen und Rückrufe über die Zeit identifiziert. Zusammenfassung: Ein Einfluss der Evidenz auf die Fallzahlentwicklung kann angenommen werden, sollte jedoch empirisch untersucht werden. Gleiches gilt für Sicherheitswarnungen und Rückrufe. Eine zeitnahe systematische Aufbereitung der Evidenzentwicklung kann Ärzten in ihrer Entscheidung helfen und sollte sich zudem in Leitlinien niederschlagen.